Pflegefamilie Bayrak

Zusammen mit meinen zwei Kindern, die inzwischen erwachsen sind, lebe ich als Alleinerziehende auf unserem Pferdehof, Hof Bayrak, in Hamm. Da wir noch ausreichend Platz übrig hatten, kam meinen Kindern und mir die Idee, jemanden in unseren Haushalt aufzunehmen. Mein Sohn als Lehramtsstudent, meine Tochter als Erzieherin in Ausbildung und ich als Mutter, Waldorfpädagogin, Reitlehrerin und ehemalige Mitarbeiterin einer Mutter-Kind-Einrichtung, waren uns schnell einig, dass wir einem Pflegekind ein schönes Zuhause geben können.

 

Erfahrungsbericht

Als mir durch Zufall eine Einstallerin meines Hofes von der Wellenbrecher-Pflegekinderhilfe in Herne berichtete, da sie selbst bei Wellenbrecher e.V. als Familienhilfe tätig und mit dem Träger sehr zufrieden ist, nahm ich zu Wellenbrecher e.V. Kontakt auf. Meine Kinder und ich haben uns also gemeinsam entschieden, zu überlegen, was zu uns passen und wie ein Tagesablauf aussehen könnte. Als Besitzerin eines Pferdehofes weiß ich, dass der Alltag weiterlaufen muss, die Pferde müssen gefüttert werden und der Reitunterricht stattfinden.
Im Anschluss wurde ich mithilfe einer Schulung auf das Pflegeverhältnis vorbereitet und lernte infolgedessen mein erstes – und auch das erste – Pflegekind der Pflegekinderhilfe Die Option kennen. Anhand verschiedener Berichte und Informationen über den Jungen sollte ich bereits vor unserem ersten Treffen einen Eindruck von ihm bekommen – und trotzdem wollte ich mir mein eigenes Bild machen. Ich lernte den damals Neunjährigen selbst kennen und merkte einfach: es passt! Wäre ich nur nach den Berichten gegangen, hätte ich ihn vermutlich nicht aufgenommen.

Tim* profitiert inzwischen seit drei Jahren von uns – und wir von ihm.

Er wird von uns ins tägliche Geschehen eingebunden, übernimmt verantwortungsvolle Aufgaben und baut durch unseren artgerechten Umgang mit Tieren, insbesondere mit Pferden, verschiedene soziale Ressourcen aus.

Unser naturnahes Konzept auf dem Pferdehof zeichnet sich durch unseren wertschätzenden Umgang mit den Tieren und untereinander aus und bietet zudem differenzierte Schwerpunkte und Angebote nach ganzheitlichen Gesichtspunkten. Dabei verfolgen wir die Idee, dass Menschen mit allen Sinnen reiten und Pferde die besten Pädagogen sind. Bei uns werden Tiere als Partner anerkannt, ihre Reaktionen leiten wir aus ihrem Herdenverhalten ab und versuchen, hier einfühlsam zu reagieren. Unsere Ausrüstung ist auch möglichst naturnah. Nach Möglichkeit reiten wir ohne Zügel und ohne Gebiss, und wir versuchen, die Pferde durch eine mentale Verbindung zu lenken. Unsere jüngeren Reitschüler arbeiten in Kleingruppen von bis zu drei Teilnehmern, bestehend aus zwei Reitschülern und einem Helfer, und legen besonderen Wert auf gegenseitige Rücksichtnahme, Wertschätzung und Gleichberechtigung. Auf unserem Hof kann jeder, der möchte, ab 5 Jahren Reitstunden nehmen oder an verschiedenen Ferienangeboten teilnehmen. Unser ältester Reitschüler ist derzeit 67 Jahre alt. Diesen Sommer haben wir beispielsweise einen Ferienreitkurs mit dem Motto „Indianisches Reiten und Leben“ angeboten und verfolgen auch hier die ganzheitliche Arbeit (mehr Infos hier).

Reiten mit Kindern auf dem Hof Bayrak in Hamm

Unser Alltag läuft inzwischen meist strukturiert und routiniert ab. Tim und ich haben uns einander angepasst und einen gemeinsamen Tagesablauf gefunden. Jeder hat seine eigenen Aufgaben, vieles erledigen wir gemeinsam. Tim besucht eine Förderschule und beschäftigt sich im Nachmittagsbereich mit verschiedenen Aktivitäten, werkelt gerne auf dem Hof oder beschäftigt sich mit unseren Tieren. Die Besonderheit, dass Tim das fetale Alkoholsyndrom (FAS) hat, prägt unseren Alltag wellenförmig. Bei strukturellen Anforderungen wie beispielsweise der Erledigung der Hausaufgaben war die Umsetzungsbereitschaft bei ihm lange Zeit manchmal ohne ersichtlichen Auslöser sehr gering. Insgesamt bin ich stolz, dass Tim sich im schulischen Bereich und im Sozialverhalten immer mehr zum Positiven entwickelt. Das braucht einfach Zeit. Aber durch solche Herausforderungen lerne ich vieles dazu. Mir hilft die Teilnahme an einer FAS-Gruppe, bei der sich Eltern, Pflegeeltern und manchmal auch die Kinder treffen, die von dem fetalen Alkoholsyndrom direkt oder indirekt betroffen sind.

Neue Erfahrungen oder Kontakte zu seiner Familie erzeugen bei Tim Reaktionen und Gefühle, die meinerseits viel Geduld und Einfühlungsvermögen bedürfen. Wenn die Treffen regelmäßig und strukturiert ablaufen, kann er davon profitieren. Zu einem Elternteil haben wir einen lockeren Kontakt über das Telefon, und in größeren Abständen finden Treffen statt. In der letzten Zeit haben sich gemeinsame Besuche im Zoo etabliert, bei welchen ich und die Beraterin von Wellenbrecher e.V. dabei sind. Zu einigen seiner Geschwister haben wir regelmäßige Kontakte, an denen Tim gerne teilnimmt. Von der Beraterin von Wellenbrecher hat Tim einen Biografieordner bekommen, in dem er gemeinsam mit der Beraterin begonnen hat zu arbeiten. Der Ordner gehört ihm und steht in seinem Zimmer, sodass er immer, wenn er will, hineinschauen kann.

Auch unser Umfeld stellt zu unverständlichen Verhaltensweisen von Tim viele Fragen. Ich sehe mich hier häufig als Dolmetscherin für Tim. Wenngleich ich nicht viele Informationen zu dem Kind preisgeben darf, versuche ich im Sinne von Tim sein Verhalten zu erklären und zu übersetzen. Auch für mich sind nicht immer alle Situation unmittelbar nachvollziehbar, dies galt vor allem für die Anfangszeit.

Die Beraterin von Wellenbrecher hat mir geholfen, das Verhalten von Tim zu verstehen und hierauf angemessen zu reagieren. Sie kommt regelmäßig sowie in akuten Situationen bei uns vorbei, und wir reflektieren dann aktuelle Situationen mit Tim und besprechen, was sonst so anliegt. Manchmal unterhalten wir uns gemeinsam mit Tim, manchmal unternimmt die Beraterin auch etwas alleine mit Tim. Mit der Zeit ist ein vertrauensvolles Verhältnis zu unserer Beraterin entstanden. Tim hat auch einen Vormund, mit welchem regelmäßige Treffen stattfinden. Ich finde, es ist eine gute Dreiecksbeziehung zwischen uns, Beraterin und Vormund entstanden. Bei dringenden Fragen oder bei Klärungsbedarf telefonieren wir einfach miteinander. Zum Austausch unter Pflegeeltern nehme ich auch an den Pflegeelternteams von Wellenbrecher e.V. teil.

Die meisten unserer Mitmenschen reagieren mit Mitgefühl auf seine Situation sowie auf seine verschiedenen Verhaltensweisen, haben jedoch auch Respekt vor dieser verantwortungsvollen Aufgabe meinerseits.

Die zwischenzeitlichen Herausforderungen stellen jedoch die vielen schöne Momente im Alltag nicht in den Schatten.

Tims soziale Entwicklung ist toll zu beobachten. Er ist ein sehr fürsorglicher Junge, der sehr engagiert und empathisch ist und ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein entwickelt hat, das mich fröhlich macht. Auch seine motorische Entwicklung macht mich sehr stolz: hier kann ich mich gut an einen gemeinsamen Urlaub erinnern, in welchem Tim es geschafft hat, ein Surfbrett selbständig zu lenken. Daher kann ich allen werdenden Pflegeeltern mit auf den Weg geben: Machen Sie sich ein eigenes Bild von den Kindern und seien Sie sich dieser Aufgabe bewusst – es gibt viele Herausforderungen, die es mit Empathie und einem strukturierten Alltag zu meistern gilt, aber es gibt auch viele schöne Momente, die euch gemeinsam wachsen lassen.

Weitere Informationen zur Wellenbrecher-Pflegekinderhilfe Die Option finden Sie hier.

* Name von der Redaktion geändert.