Über die Bedeutung digitaler Medien und die Notwendigkeit von Medienkompetenz.

Von Univ.-Prof. Dr. i. R. Stefan Aufenanger.

Die Digitalisierung in allen Lebensbereichen fordert die Gesellschaft heraus: Wie soll sie mit diesen Entwicklungen umgehen und welche bildungspolitischen Maßnahmen sind notwendig, um nicht nur Menschen darauf vorzubereiten, sondern sie auch zu qualifizieren, bei gesellschaftlichen Debatten qualifiziert mitzureden? Meist werden diese Fragen im Kontext schulischer Bildung diskutiert und auch entsprechende Papiere und Programme aufgelegt. Man denke nur an das Strategiepapier der KMK „Bildung in der digitalen Welt“ (KMK 2017) sowie den „Digitalpakt Schule“. Selbstverständlich ist die Schule eine zentrale Einrichtung im Bildungswesen, aber auch der außerschulische Bereich ist ein wichtiger Bereich, in dem Bildung angeboten wird. In der Jugendarbeit wird dies meist durch spezifische Angebote aufgegriffen, indem etwa in Form kreativer Medienarbeit Medienkompetenz vermittelt werden soll, oder durch Aufklärung über die Gefahren im Internet und einen angemessenen Umgang in sozialen Netzwerken. Beide Aspekte sind als wichtig anzusehen: Die Chancen, die uns digitale Medien heute bieten, indem wir uns schnell und umfassend informieren, mit anderen in aller Welt kommunizieren und kooperieren und uns natürlich auch selbst darstellen können – um nur einige wenige Möglichkeiten zu nennen – sollten wir in der Lage sein, sie angemessen zu nutzen. Dazu wäre es notwendig, digitale Medien zu verstehen und richtig anzuwenden. Will man die gebotenen Möglichkeiten pädagogisch sinnvoll angehen, muss man erst einmal begreifen, welche Bedeutung und Funktion digitale Medien in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen haben. Unter digitalen Medien werden nicht nur die Hardware, also Geräte wie Smartphones, Tablets oder Computerspielkonsolen, verstanden, sondern auch die Programme bzw. Anwendungen. Dazu zählen vor allem die sozialen Netzwerke wie Instagram, die Messengerdienste wie WhatsApp oder auch Onlinespiele wie etwa Pokémon Go.

 
Die Bedeutung digitaler Medien im Leben von Jugendlichen
Soziale Medien wie etwa Facebook, WhatsApp, Twitter oder Instagram bestimmen seit einiger Zeit auch unser soziales Leben. So tauschen sich Menschen in Familien, unter Verwandten, Freunden, Gleichaltrigengruppen oder auch im beruflichen Kontext miteinander aus. Zugleich gibt es aber auch eine öffentliche Diskussion, in der beklagt wird, dass durch diese sozialen Netzwerke das Soziale, insbesondere das persönliche Gespräch, zerstört, durch die Anonymisierung moralische Schranken eingerissen sowie radikale Meinungen offenen Raum finden würden. Dies mag sicher stimmen, aber ist dies nur die Schuld allein der sozialen Netzwerke? Mobbing, Hassreden, Anmache etc. gab es schon vor den sozialen Medien, sie werden durch sie nur verstärkt und durch die Öffentlichkeit der sozialen Medien für die Opfer schlimmer. Jedoch muss eine Gesellschaft lernen, mit diesen Missbräuchen umzugehen. Dazu gehört unter anderem, ein gutes Vorbild zu sein – dies betrifft vor allem Eltern, Pädagogen und natürlich auch Politiker. Wer Andersdenken im Netz diffamiert, regt Unerfahrene dazu an, dies auch zu tun. Selbstverständlich haben Schule und Jugendarbeit eine wichtige Bildungsaufgabe. Sehen wir es als einen wichtigen Aspekt von digitaler Bildung an, einen sozial verantwortlichen Gebrauch digitaler Medien – und dazu gehören auch soziale Netzwerke – zu pflegen, dann muss Schule sich für diese Thematik öffnen. Dies bedeutet zum einen, diese Medien selbst zum Werkzeug des Lehrens und Lernens zu machen und damit einen angemessenen Gebrauch vorzuführen. Zum anderen müssen aber auch digitale Kompetenzen vermittelt werden, damit junge Menschen für die digitale Gesellschaft gut gerüstet sind. Funktion und Bedeutung von Medien – insbesondere sozialer Netzwerke – für das Jugendalter zu thematisieren, gehört zentral dazu. Warum?
 
Dass die digitalen Medien, vor allem die Smartphones und die sozialen Netzwerke, im Leben von Kindern und Jugendlichen eine große Rolle spielen, kann man in jeder Familie oder auch im Alltag, in Bus und Bahn und nicht zuletzt auch in den pädagogischen Institutionen mitbekommen. Dies wird auch durch Studien bestätigt, die dazu entsprechende Daten erheben. So zeigt die JIM-Studie 2019 des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (MPFS 2020) in einer repräsentativen Studie mit 1.200 Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren, dass fast alle Jugendlichen mit Handys und Smartphones sehr gut ausgestattet sind, die Anwendung WhatsApp bei 95% der Jugendlichen eine große Rolle spielt bei täglicher Nutzung bzw. mehrmals pro Woche, gefolgt von Instagram (67%) und Snapchat (54%), dagegen Facebook mit 15% an Bedeutung verliert (ebenda, 30). Auch werden diese sozialen Netzwerke überwiegend zum Austausch mit Freunden benutzt, die man gut kennt (82% machen dies häufig). Ebenfalls bedeutsam in der Jugendkultur ist YouTube. Bei über der Hälfte der Jugendlichen spielen Musikvideos eine große Rolle (ebenda, 37). Geschlechterdifferenzen gibt es dagegen bei der Nutzung von Let’s-play-Videos, bei denen man Computerspielern bei Spielen zuschauen kann, mit 52%-Nutzung durch Jungen und nur 13% durch Mädchen. Genau umgekehrt ist es bei Videos zur Mode oder Beautythemen: hier dominieren die Mädchen mit 30%, und nur 4% der Jungen verfolgen dieses Angebot (ebenda, 40).
 
Kommerzialisierung und Mobbing als Problembereiche
Natürlich gibt es auch Problembereiche in der Nutzung sozialer Netzwerke. Dies betrifft zum Beispiel den Einfluss von so genannten Influencern, die Werbung für Produkte machen, die bei Jugendlichen besonders beliebt sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie der gleichen Altersgruppe angehören oder nur gering älter sind, als ihre Zuschauer bzw. Besucher, und dass sie die Werbung in den Alltag ihres Lebens einbinden, also besonders gelungen die Attraktivität und Bedeutung der Produkte herausstellen können. Damit setzen sie Trends und bringen oftmals Jugendliche unter Druck, sich auch diese Dinge anzuschaffen. Influencer spielen im Marketingbereich großer Firmen eine immer größere Rolle und beeinflussen so die Kaufentscheidungen von Jugendlichen stärker als herkömmliche Werbung. Einen weiteren Problembereich stellen Mobbing und Beleidigungen in den sozialen Netzwerken dar. So haben 35% der Mädchen und 26% der Jungen schon einmal Cyber-Mobbing in ihrem Bekanntenkreis mitbekommen. Von 11% der Befragten in der JIM-Studie sind schon einmal peinliche oder beleidigende Fotos im Internet verbreitet worden (ebenda, 50).
 
Bedeutung virtueller Räume im Jugendalter
Wenn wir von ‚Räumen‘ sprechen, dann denken wir meist an physische Räume, in denen wir aufgewachsen sind, in denen wir leben und erfahren. Räume – vor allem aber auch pädagogische Räume – haben Einfluss auf uns, meist ohne, dass wir es merken. Ihre Gestaltung kann uns anregen, wenn sie gelungen ist, sie kann uns aber auch hemmen, wenn wir durch Objekte und schlechte Ästhetik abgelenkt sind. In den letzten Jahrzehnten sind so genannte ‚virtuelle Räume‘ hinzugekommen, die durch digitale Medien konstruiert sind. Es handelt sich um soziale Netzwerke, um virtuelle Klassenzimmer oder auch um Computerspiele. Vor allem erstere spielen als virtuelle Räume eine große Rolle, da sie ebenso wie reale Räume Kommunikation und soziale Interaktionen ermöglichen. Sie bieten ihren Benutzern aber auch zahlreiche Möglichkeiten, um sich von bestimmten Identitätszuschreibungen des Offline-Alltags loszulösen, eigene Wunschidentitäten aufzubauen oder sich völlig anonym einer Interessengemeinschaft anzuschließen. Im Hinblick auf die Identitätskonstitution und Selbstdarstellung sind dem Individuum dabei kaum Grenzen gesetzt (vgl. Keupp 2009). In Bezug auf seine Identitätsbildung eröffnet die Onlinewelt als virtueller Raum dem Selbst ein breites Spektrum an neuen Erfahrungen und Gestaltungsmöglichkeiten (vgl. Döring 2003).
 
Wie sieht dies nun genau aus? In einer virtuellen Welt besteht die Möglichkeit, den Alltag auszuklammern und sich mit einer Phantasiewelt zu identifizieren. Dabei ist es möglich, je nach Vorlieben frei zu wählen, welche virtuellen Räume man bevorzugt. Das beinhaltet auch, dass man eine Rolle annehmen kann, die augenscheinlich nichts mit der eigenen, realen Identität zu tun hat. Man schlüpft also in eine Rolle und ist in der Lage, Charaktereigenschaften zu leben, die die nutzende Person in der Realität nicht auszeichnet oder die im realen Leben nicht zum Tragen kommen. Dies führt zu den beiden Charakteristika, Anonymität und Pseudoanonymität, die einem ermöglichen, dass man sein kann, wer man will, und man kann tun und lassen, was man will. Dabei bleibt man – im persönlichen Kontext zumindest – vollkommen anonym. Des Weiteren erschafft man sich durch die Erstellung von Avataren und sonstigen virtuellen Personen, deren Aussehen, Namen und Eigenschaften man selbst bestimmt, Pseudonyme. Die Freiheit hierbei scheint grenzenlos.
 
Ein weiterer Punkt in Bezug auf die Identität in virtuellen Welten umfasst die Entstehung von kollektiven, sozialen und non-konformen Identitäten, die im Internet ausgelebt und erlebt werden können. Ein entscheidender Faktor hierbei ist die Tatsache, dass man sein Handeln nicht vor anderen persönlich rechtfertigen muss. Dies bedeutet auch, dass man sich nicht auf eine persönliche Konfrontation einlassen muss und manche Dinge, die man in einem persönlichen Gespräch vielleicht nicht gesagt hätte, in diesem Zusammenhang leichter äußern kann. Dies alles kann zu einer Modifikation der eigenen Persönlichkeitsmerkmale führen. Durch das Bewegen in der virtuellen Welt können eventuell neue Eigenschaften entdeckt werden, und die reale Persönlichkeit kann dadurch ergänzt oder verändert werden. Dies kann zu Transfer-Effekten führen, da man Werte, Moralvorstellungen und Erlebtes in die reale Welt übertragen kann.
 
Probleme der Selbstdarstellung
Die Vielfalt der Selbstdarstellung fördert aber auch ein Problem zu Tage: Wie viele und welche Informationen gibt ein jeder von sich preis, und welche Motivation steht dahinter? John Palfrey und Urs Gasser erklären diese Problematik mit dem „disclosure-decision-model“ aus der Psychologie. Demnach entscheidet jeder Mensch unbewusst, wie viel Informationen er von sich preisgibt nach einer Einschätzung der Nutzen und Risiken und dem verfolgten Ziel der Anerkennung oder der ökonomischen Aspekte, wie etwa Zeit und Geld. Dieses Öffentlichmachen von privaten Aspekten ist wichtiger Teil der Identitätskonstitution im Netz; es dient der Selbstdarstellung und steuert die Fremdwahrnehmung. Auf diesem Modell bauen alle sozialen Netzwerke auf und bilden Vertrauens- und Identitätsnetzwerke, in denen sich die Benutzer bewegen, aus (vgl. Palfrey, Gasser 2008). Das Netz bildet somit einen wichtigen Experimentier- und auch Rückzugsraum für die Jugendlichen. Sie nutzen es für eine Offenlegung ihrer selbst und teilen sich in vielfältigen Formen wahlweise via Textbeitrag oder Foto-Upload mit. Es findet ein Spiel mit verschiedenen Identitäten statt. Das Aufbauen einer Identität im Netz wird zu einer Aufgabe, und ein ständiger Lernprozess begleitet sie in der Entscheidung, was und wie viel sie der Öffentlichkeit preisgeben. Diese Entscheidung erscheint von außen betrachtet vielleicht oft wahllos und unreflektiert, u nterliegt aber strengen Auswahlkriterien und ist gerade wegen ihrer Vielfalt stark vom Tageskontext und dem Kontext des virtuellen Raumes abhängig. Die beiden Autoren sprechen von Mehrfachidentitäten, die es verständlicherweise sehr erschweren, ein klares Selbstbild und eine Selbstrepräsentation zu definieren. Genauso einfach wie das Erstellen von Beiträgen und Verändern von Profilinformationen ist auch der Zugang zu diesen Daten. Eben nicht nur „Freunde“ haben Zugriff darauf, sondern häufig auch Fremde. Eine Anpassung der Identität an verschiedene Personenkreise und Situationen wird im Netz erheblich erschwert, da die Grenzen nicht klar umrissen sind. Die im Internet aufgebauten Identitäten sind nach Meinung von Palfrey und Gasser ebenso wie reale Identitäten geprägt von Unbeständigkeit und Unsicherheit. Unbeständigkeit im Sinne einer sich ständig ändernden Darstellung und auch einer sich ständig wandelnden Wahrnehmung der Anderen. Sie bewirkt auch eine vielfache Manipulation und ein Zerrbild der Persönlichkeit. Der Schutz der eigenen Persönlichkeit und der personenbezogenen Daten sei vor allem von Unsicherheit geprägt. Ausreichenden Schutz vor Fremdmanipulation und eine hundertprozentige Kontrolle gibt es heute allerdings noch nicht. Ein heute in der digitalen Welt Aufwachsender hat zwar viele Möglichkeiten, ein Bild von sich im Internet zu gestalten, aber weniger, auf die Wahrnehmung der Benutzer Einfluss zu nehmen. Die Mehrfachidentitäten im Internet können ein scheinbar vollständigeres Bild der Person ermöglichen, zugleich präsentieren sie sich aber auch undurchschaubarer und manipulierter. Zudem muss unterschieden werden, welche Form von Mehrfachidentität im Internet gezeigt wird. Entweder, es wird ein anderer Aspekt, eine andere Seite einer Persönlichkeit gezeigt, oder es existieren unzählige Teilidentitäten auf verschiedenen Plattformen wie etwa Social-Network-Plattformen und Online-Rollenspielen.
 
Die Chancen, die daraus resultieren, sind ebenso vielfältig wie die Risiken. Während man auf der einen Seite als positives Merkmal die weltweite Vernetzung und ein Entgegenwirken gegen eine mögliche Einsamkeit nennen kann, steht dem auf der anderen Seite beispielsweise der Missbrauch von Daten gegenüber. Das Internet und die sozialen Netzwerke ermöglichen eine Ungebundenheit an Zeit und Raum sowie die Darstellung des eigenen Ichs und den Austausch mit allen möglichen vernetzten Personen. Diese Faktoren beinhalten allerdings Risiken wie das Bloßstellen und das „Mobbing“ im Internet. Des Weiteren gibt es allerdings auch Elemente, deren Zuordnung zu Chancen oder Risiken nicht eindeutig ist. Dies betrifft die Möglichkeit, neue Leute kennen zu lernen sowie die Verschmelzung von realer und virtueller Welt. Die zentrale Entwicklungsaufgabe im Jugendalter, die Frage nach dem „Wer bin ich und wer möchte ich sein?“ zu beantworten, kann mit den neuen virtuellen Räumen des Internets angegangen werden. Die vielfältigen Identitätstheorien verweisen auf diese Möglichkeit, und oftmals wird dieses Potenzial des Internets auch als sehr bedeutsam herausgestellt.
 
Pädagogische Aspekte
Wie verhalten sich nun diese virtuellen Räume zu den realen Räumen in Alltagsleben vor allem von Jugendlichen? Zieht man zur Beantwortung dieser Frage Daten aus empirischen Studien hinzu, so wird deutlich, dass reale Räume und damit auch soziale Interaktionen immer noch eine große Rolle spielen. Die bereits erwähnte JIM-Studie 2019 (vgl. MPSF 2020, 6) macht deutlich, dass zwar Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren fast zu hundert Prozent mit Smartphones und damit dem mobilen Zugang zu virtuellen Räumen ausgestattet sind, aber zugleich knapp drei Viertel sich regelmäßig mit Freunden trifft, mehr als zwei Drittel sportlich aktiv sind und sogar ein Drittel regelmäßig mit ihrer Familie etwas unternimmt.  Die Jugend ist also nicht an die virtuelle Welt verloren! Soziale und Jugendarbeit kann jedoch Kindern und Jugendlichen dabei helfen, virtuelle Räume angemessen und ohne Kontrollverlust zu nutzen. Dazu müssen Möglichkeiten zum Erwerb von Medienkompetenz geschaffen werden, indem in medienpädagogischen Projekten auf die Chancen, aber auch auf die Risiken der Nutzung sozialer Netzwerke hingewiesen wird.
 
Wenn wir also im pädagogischen Kontext über soziale Netzwerke diskutieren, sollten wir nicht immer nur die kritischen und problematischen Aspekte betonen, die zwar nicht vergessen werden sollten, aber nur die eine Seite der Medaille sind. Es zeigt sich, dass die Potenziale sozialer Netzwerke sowohl im Pädagogischen als auch im Politischen liegen. Dies zu nutzen, ist eine wichtige erzieherische Aufgabe von Schule und sollte in den öffentlichen Diskussionen nicht übersehen werden. Dass nicht nur die Jugendlichen lernen müssen, angemessen und sinnvoll mit diesen virtuellen Angeboten umzugehen, sondern auch Gesellschaften insgesamt, erfordert Zeit und Geduld. Beides sollten wir uns für die Zukunft der jüngeren Generation leisten!
 
Medienpädagogische Aspekte
Die hier aufgezeigten Nutzungsformen und Problembereiche sollten Erwachsene eigentlich nicht beunruhigen. Sie sollen vielmehr eine typische Erscheinung in der Jugendphase im Zeitalter digitaler Medien deutlich machen. Jede Jugendgeneration hat sich immer Räume gesucht, in denen sie sich erproben kann. Heute sind es die sozialen Medien, mit Vorteilen der Selbstdarstellung, aber auch mit den dargestellten Fehlentwicklungen wie Mobbing. Diese in den Griff zu bekommen, kann auf zweierlei Weise geschehen: Im politischen Bereich geht es darum, Missbräuche in sozialen Medien durch Vorgaben und Regulation zu unterbinden. Soziale Netzwerke müssen stärker gezwungen werden, missbräuchliche Nutzung auszuschließen. Auf der pädagogischen Ebene müssen die digitalen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen stärker gefördert werden. Nur so können diese selbst entscheiden, wie sie das vielfältige Angebot nutzen wollen.
 
Der Umgang mit Medien spielt heute in allen Bildungsinstitutionen eine bedeutende Rolle. Ob in der Schule mit Computer und Internet gearbeitet wird, an der Hochschule die Studierenden mit virtuellen Handapparaten ihre Lernmaterialien zur Verfügung gestellt bekommen oder ihre Referate mit Power Point präsentieren, in der Erwachsenenbildung Berufstätige mit Hilfe von E-Learning-Anwendungen sich weiterbilden oder in der außerschulischen Jugendarbeit der Umgang in sozialen Netzwerken ausprobiert wird: Überall sind wir darauf angewiesen, die jeweiligen Medien angemessen verwenden zu können. Der Begriff der Medienkompetenz versucht genau, die damit verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu umschreiben. Auf einer ersten Ebene meinen wird damit den kompetenten, selbstbestimmten und sozial-verantwortlichen Umgang mit allen Arten von Medien. Dies muss jedoch genauer differenziert und bestimmt werden. Wir unterscheiden deswegen unterschiedliche Bereiche der Medienkompetenz. Ein erster wichtiger Bereich bezieht sich auf die Medienwelt selbst. Uns sollte bewusst sein, dass ein sehr großer Teil unseres Wissens über die Welt über Medien vermittelt worden ist. Wir nennen diesen Aspekt Medialitätsbewusstsein. Ergänzt wird dieser Aspekt über die mediale Prägung von Wissen durch das Wissen über den Umgang und die Zusammenhänge von Medien. Traditionell wird darunter Medienkunde verstanden, aber dieser Bereich muss heute in der digitalen, vernetzten Welt weiter gefasst werden. Denn die reine Handhabung von Medien, also zu wissen, wie man einen DVD-Rekorder programmiert, wie man Bluetooth im Handy ausstellt, eine Datei abspeichert, eine Suchanfrage im Internet startet oder über das Internet telefoniert, reicht heute nicht mehr aus. Wir müssen mehr über die Medienwelt wissen, um zu verstehen, wie sie funktioniert. Denn die großen Medienunternehmen sind nicht mehr nur in einem engen Gebiet aktiv, sondern sie versuchen, ihren Wirkungsbereich auszuweiten. Je besser man diese Zusammenhänge versteht und durchschaut, desto eher kann man sich in der Medienwelt selbstbestimmt verhalten.
 
Die zweite Dimension der Medienkompetenz bezieht sich auf die Inhalte von Medien und umfasst unterschiedliche Aspekte. Ein wichtiger ist, Medien kritisieren zu können. Eine kritische Haltung ihnen gegenüber ist notwendig, um sich mit den Informationen, die über Medien vermittelt werden, selbst ein Urteil bilden zu können. Kritik setzt aber zugleich voraus, dass ich auch die Medien und ihre Botschaften verstehe. Deswegen umfasst diese Dimension der Medienkompetenz auch Fähigkeiten im Bereich des Denkens. Denn die vielfältigen, vor allem auf Bilder, Grafiken und Filme bezogenen Angebote des Internets verlangen von uns, sie auch lesen zu können. Dazu reichen oftmals unsere Kenntnisse für das Lesen von Texten nicht aus. Damit sind wir auch schon bei der dritten Dimension, der Fähigkeit, sich mit Medien ausdrücken, informieren und kommunizieren zu können. Wir können diesen Bereich zum Beispiel im Sinne der Gestaltung von Medien verstehen, indem es darum geht, dass wir Medien benutzen können, um uns mit ihnen auszudrücken. Dies kann etwa ein Fotoroman, ein Video, ein Computerspiel oder eine Webseite sein. Um dies jedoch kompetent und für andere verstehbar zu machen, müssen wir entsprechende gestalterische Kompetenzen besitzen, die etwa Bildaufbau, Verhältnis von Text bzw. Sprache zur Filmhandlung oder eine gut navigierbare Webseite umfassen können. Der Umgang mit Medien betrifft aber nicht nur diese Aspekte, sondern hat auch eine gewisse soziale Komponente. Denn, wenn wir mit Medien kommunizieren – etwa eine Email schreiben, mit jemanden chatten oder in einem sozialen Netzwerk eine Meinung posten –, dann müssen wir auch wissen, wie man sich dabei benimmt. Diese so genannte ‚Netiquette’ ermöglicht einem, in den medial bestimmten sozialen Beziehungen verstanden und respektiert zu werden. Man kann dies als das sozial-verantwortliche Verhalten in der Medienwelt bezeichnen.
 
Eine weitere, die vierte Dimension der Medienkompetenz, stellt die Fähigkeit dar, seinen Alltag so zu gestalten, dass die Medien nicht uns, sondern wir sie beherrschen. Gemeint ist damit, dass wir oft vor Entscheidungen stehen, ob wir uns lieber vor den Fernsehapparat setzen, im Internet surfen oder ein Computerspiel machen, als etwa die Hausaufgaben anzufangen, mit Freunden zu treffen oder mit den anderen Familienmitgliedern zu diskutieren. Das Abwägen von Handlungsalternativen ermöglicht uns ein selbstbestimmtes Handeln.
 
Wir können also zusammenfassen, worum es bei der Medienkompetenz geht: Sie beschreibt die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die uns helfen, Mediensysteme zu begreifen und wie wir mit Medien aller Art angemessen und kompetent umgehen können. Gleichzeitig ermöglicht sie uns, ihre Botschaften zu verstehen und zu kritisieren. Wir erfahren, wie sich Medien zur Information und Kommunikation ohne soziale Beeinträchtigungen nutzen lassen und dass wir sie so in unseren Alltag integrieren können, ohne dass sie unser Leben bestimmen.
 
Um die mit der Förderung von Medienkompetenz verbundenen Aufgaben auch angemessen umsetzen zu können, müssen wir auf die Hilfe aller Bildungsinstitutionen zurückgreifen. Dies betrifft nicht nur die Familie, den Kindergarten und natürlich die Schule, sondern auch die vielen außerschulischen Einrichtungen. Mit ihrem Prinzip der Freiwilligkeit und der Lebensweltorientierung haben sie mehr Spielraum als die Schule. Sie können viel offener und zeitlich weniger limitiert zum Beispiel Fragen des Datenschutzes, des Umgangs in sozialen Netzwerken, der kreativen Medienarbeit, des sozial verantwortlichen Umgangs mit Medien ansprechen und in Projekten auch umsetzen. Dazu ist es aber auch notwendig, dass Medienthemen, Medienkompetenz sowie Medienpädagogik viel stärker in der Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals der Jugendhilfe angesprochen und vermittelt wird.
 
Insgesamt sollten Vermittlung und Förderung von Medienkompetenz als Aufgabe des lebenslangen Lernens gesehen werden. Den je nach Entwicklungsstufe – das wurde ja schon deutlich gemacht – sind unterschiedliche Dimensionen der Medienkompetenz überhaupt förderbar. In diesem Kontext ist es auch wichtig, Medienkompetenz nicht nur als eine Aufgabe heutiger Erziehung und Bildung zu sehen, sondern auch als die Fähigkeit, mit unbekannten Medienentwicklungen kritisch und konstruktiv umgehen zu können. Den wir müssen ja sehen, dass jene Medien, mit denen wir heute umgehen und die wir heute gerne benutzen, auch jene sind, deren Umgang wir in Zukunft beherrschen müssen. Gerade die Entwicklungszyklen im Medienbereich werden immer kurzlebiger, so dass wir vielleicht gar nicht so genau bestimmen sollten, auf welche Medien mit welchen Problemen wir Medienkompetenz hin ausbilden sollten. Dies ist sicher wichtiger, um den jungen Menschen erst einmal eine Grundlage zu geben, sich in der Medienwelt kompetent und selbstbestimmt zurechtfinden zu können. Zugleich sollten wir jedoch Medienkompetenz als eine neue Kulturtechnik verstehen, die allen Menschen zu allen Zeitpunkten zur Verfügung stehen sollte, um sich mit den neueren Entwicklungen im Medienbereich auseinandersetzen zu können. Nur so können wir sicherstellen, dass Erziehung und Bildung unserer heutigen Kinder und Jugendlichen eine ausreichende Grundlage für ihre Sozialisation in die Gesellschaft und zugleich zukunftsorientiert ist.
 
Fazit
Die sozialen Netzwerke haben Potenziale im Bereich der Kommunikation, Information, der politischen Beteiligung sowie in der Identitätsfindung von Jugendlichen. Dies zu nutzen, ist eine wichtige erzieherische Aufgabe von schulischer und außerschulischer Bildung und sollte in den öffentlichen Diskussionen nicht übersehen werden. Dass nicht nur die Jugendlichen lernen müssen, angemessen und sinnvoll mit diesen virtuellen Angeboten umzugehen, sondern auch Gesellschaften insgesamt, erfordert Zeit und Geduld. Beides sollten wir uns für die Zukunft der jüngeren Generation leisten!
 
 
 
Quellen
KMK – Kultusministerkonferenz (2017), Strategie der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8.12.2016), Berlin, Bonn
Döring, Nicola (2003) Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen
Keupp, Heiner (2009), Identitätskonstruktionen in der spätmodernen Gesellschaft –
Riskante Chancen bei prekären Ressourcen. In: Theunert, H. (Hrsg.): Jugend – Medien – Identität. Identitätsarbeit Jugendlicher mit und in Medien. München
mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2020),  JIM-Studie 2019. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart
Palfrey, John,  Gasser, Urs (2008), Generation Internet. Die Digital Natives: Wie sie leben, was sie denken, wie sie arbeiten. München

 

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus unserer Veröffentlichung „individualpädagogische blätter“, Ausgabe-Nr. 3. Die aktuelle ipb-Ausgabe kann entweder bei uns als Druckexemplar bestellt oder in elektronischer Form hier heruntergeladen werden.

ipb 3-Schwerpunktthema: „Identität in Zeiten der Digitalisierung“

Stefan Aufenanger, Seniorforschungsprofessor an der Universität Mainz. Hat Erziehungswissenschaft und Soziologie studiert, war mehrere Jahre an verschiedenen Universitäten tätig und ist seit 2005 Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Lehrens und Lernens mit digitalen Medien in Familien und Bildungsinstitutionen.

 

 

 

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