Und dann hat es rumms gemacht…

„Trommelzauber“ in der GGS Breite Straße – Ein Schulsozialarbeiter berichtet

Michael Kazmierski (37) ist Schulsozialarbeiter an der GGS Breite Straße in Duisburg-Fahrn. Im Februar 2019 hat er das Projekt „Trommelzauber“ in Kooperation mit der Schulleitung und Wellenbrecher e.V. an die Schule geholt. Eine Woche lang lernten 264 Kinder das Spielen der Trommeln, bevor sie in zwei großen Aufführungen ihr Können mehr als 400 Eltern und sonstigen Interessierten präsentierten. Gefördert wurde das Musikprojekt durch das Deutsche Kinderhilfswerk. Ein Erfahrungsbericht über einen vielfältigen Beruf und eine faszinierende Projektwoche.

Es ist am Freitag, dem 8.2., noch früh, 10:15 Uhr, und an die 200 Eltern warten vor der Turnhalle auf die erste Vorstellung ihrer Kinder. Die Halle ist afrikanisch geschmückt, 264 Schüler und Schülerinnen haben in den letzten Wochen Bilder gemalt, jetzt hängen sie an den Wänden und ergeben ein farbenfrohes Muster.
Vor drei Stunden fingen wir an, alles für heute vorzubereiten. Lehrerinnen empfingen die Kinder in ihren Klassen, die Kostüme wurden angezogen, die Tiermasken aufgesetzt, bevor es zur Generalprobe in die noch leere Turnhalle ging. Dort wurden Sportbänke zu Sitzplätzen, Stühle wurden aus der Mensa geholt, Sportmatten für kleine Geschwister vor die Sitzreihen gelegt. Die Musikanlage und 132 Trommeln mussten aufgebaut werden. Ausnahmezustand und Finale dieser Projektwoche.
Dann gehen die Türen auf. Die Eltern bewundern die Bilder und nehmen ihre Plätze ein Sie staunen als ein paar Minuten später über einhundertdreißig Gazellen, Elefanten, Affen und Giraffen die Halle betreten. Die Tiere setzen sich hinter ihre Trommeln, gespanntes Warten und dann ist es soweit. Die Musik setzt ein. Trommelkünstler Arnd Dalbeck hebt die Arme und macht ein paar Dehnübungen, die „Reise ins Trommelzauberland Tamborena“ kann beginnen. Irgendwann kommt dann der Moment, wo Arnd Dalbeck die Hand hoch über seinen Kopf hält und sie eine Ewigkeit dort oben belässt. Die Tiere folgen seinem Beispiel. Und als kurze Zeit später 132 Hände gleichzeitig auf ihre Trommeln schlagen, macht es rumms in über 300 Köpfen, und ein Raunen geht durch die Halle.

Foto der Grundschulkinder beim Trommelzauber-Projekt

Reise ins Trommelzauberland Tambourena

Keep on Running: Der Beruf eines Schulsozialarbeiters

Rückblick, Sommer 2017. Es sind meine ersten Tage als Schulsozialarbeiter an der GGS Breite Straße, ich wandere durch die zwölf Klassen und stelle mich den Kindern vor. Die Schülerschaft ist vorwiegend türkisch, dazu kommen rumänische, bulgarische, armenische, slowenische, afrikanische Kinder, ebenso: an die 60 Flüchtlingskinder aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, viele von ihnen auffällig und traumatisiert. Es ist absurd: Ein Teil der Kinder hat seine Kindheit im Kindergarten verbracht, ein anderer Teil durchgehend bei seiner Familie. Andere wiederum haben Kriegs- und Fluchterfahrung hinter sich. Heterogener geht’s kaum.
Zum Großteil wirken die Kinder trotzdem glücklich, auch wenn 75% von ihnen direkt oder indirekt von Armut bedroht sind. Die Anzahl der Familien, die hier vor Ort im Leistungsbezug sind, ist hoch. Bei Klassenfahrten melden mindestens ein Drittel der Eltern Bedarf an, wenn es um die Bezahlung geht. Denen, die kaum Deutsch können, helfen wir bei der Antragsstellung, anderen erklären wir, wie sie das Geld beim Amt für Bildung und Teilhabe beantragen können und welche Unterlagen sie dafür brauchen.

Die nächsten Wochen sind geprägt durch die ersten Elterngespräche. Ein Vater hat Schulden, ich vereinbare einen Termin mit ihm bei der Schuldnerberatung. Eine Mutter will sich von ihrem Mann trennen, ich gebe ihr Adressen von Eheberatungsstellen. Eine andere ist alleinerziehend und weiß mit ihrem Sohn nicht mehr weiter. Ich biete ihr an, sie zum Jugendamt zu begleiten, um zu gucken, ob eine der Hilfen zur Erziehung das richtige für sie ist. Im schlimmsten Fall sitze ich mit der Schulleitung im Büro, und wir überlegen, ob wir uns in Einzelfällen direkt an das Jugendamt wenden sollen. Die Maschinerie kommt ins Rollen.

Wenn es einem zu viel wird mit den ganzen Problemen, kann man sich wieder auf die Kinder konzentrieren. Nach kurzer Zeit führe ich in mehreren Klassen Sozialkompetenztrainings durch. Bei der „Teamgeist-Olympiade“ muss die Klasse mir beweisen, dass sie im Fall der Fälle Zusammenhalten kann. Wir spielen Kooperationsspiele und machen Übungen aus dem Coolness-Training, am Ende jeder Einheit sammeln wir Punkte für unsere große Klassen-Abschluss-Party. Aber das Wichtigste: Haben wir bei den Übungen heute gut aufeinander aufgepasst? Konnten wir Streitigkeiten cool klären? Haben wir heute untereinander gut zugehört? Aber vor allem: Hatten wir Spaß? Und falls ja, warum? Vielleicht, weil es mehr Freude bereitet, mit anderen Aufgaben zu lösen, anstatt immer nur in Konkurrenz zu treten? Vielleicht, weil man manche Aufgaben nur gemeinsam lösen kann? Das sind die Fragen, die wir uns im Laufe der Einheiten stellen.
Zwei Kinder kommen nach der Stunde zu mir, sie wollen einen Streit geklärt haben. „Was glaubt ihr, wie könnte man die Situation für euch beide jetzt lösen?“. Dann sprudelt es: „Sich vertragen“, „Gemeinsam ein Spiel spielen“, „Sich erst einmal aus dem Weg gehen“. Die Übungen fruchten.

Trommeln werden zum Leben erweckt

Wer genau die Idee zur Projektwoche „Trommelzauber“ hatte, lässt sich im Nachhinein nicht mehr nachvollziehen. Irgendwann erzähle ich auf der Lehrerkonferenz, dass der Schulsozialarbeit Gelder zur Verfügung stehen würden, irgendwann fällt das Wort „Trommelzauber“. Wir schauen uns Videos im Internet an. Wir sehen zig Schüler und Schülerinnen mit Trommeln in Turnhallen sitzen, wir sehen wunderschöne Kostüme und Kulissen, wir hören gute Musik. Und irgendwann wird klar, dass wir das wollen.
Viele Schulen machen Projektwochen zum Thema „Soziales Lernen“. Kinder dürfen dabei Arbeitsblätter ausfüllen, auf denen erklärt wird, was Gemeinschaft und Solidarität ist. Aber um wie viel besser ist es, wenn die Kinder Gemeinschaft und Solidarität konkret erfahren? Wenn zig Kinder, türkische, bulgarische, rumänische, deutsche und Kinder, die flüchten mussten, nebeneinander hocken und gemeinsam für ein großartiges Erlebnis sorgen? Viel besser.

Über 3.000 Euro müssen beschafft werden. Es werden Spenden der Eltern gesammelt, die Projektgelder der Schulsozialarbeit werden ins Rennen geworfen, die Schule gibt einen Teil von ihrem Etat ab. Als langsam die Schweißperlen auf die Stirn steigen, weil man nicht weiß, wie man das Projekt sonst noch finanzieren soll, springt uns das „Deutsche Kinderhilfswerk“ mit einer Förderung zur Seite, und ermöglicht so, dass wir uns auf den Weg machen können. Und dann geht die Organisation los.
Der Stundenplan muss angepasst, Elternbriefe müssen geschrieben, ein Elternabend muss vorbereitet werden. Ablaufpläne werden erstellt, Prozessabläufe vorbereitet. Wann geht welcher Brief raus, wen müssen wir wann wie informieren? Ständiger Austausch mit dem Trommelkünstler, ständiger Austausch mit dem Kollegium. „Was ist Trommelzauber?“, fragt mich ein Kind. „Lass dich überraschen“, ist meine Antwort. Ich weiß selber nicht, was uns erwartet.

Und dann geht es los. Montagmorgens steht ein Wagen mit Anhänger vor der Turnhalle, 264 Kinder werden nach und nach zum Hänger geführt. Um 7:00 Uhr stand ich in der Halle und hab die Anlage aufgebaut, jetzt stehe ich um 08:15 Uhr mit einer Kollegin kurz vor Rente auf dem Wagen und gebe Trommeln an alle Kinder raus. Sie alle versammeln sich in der Turnhalle und fangen an, ihre ersten Rhythmen zu schlagen: Bamm. Bamm. Bamm. Die Woche kriegt ihren Takt.

In den nächsten Tagen ist es geschäftiges Treiben. Man sieht die ersten Gazellen durch die Gänge rennen, die Giraffen, Elefanten und Affen erobern den Schulhof. Die Stimmung ist friedlich. In den Klassen wird gebastelt, über Afrika gesprochen und gespielt, der offene Ganztag (Rapunzel e.V.) greift das Thema auf und macht im Nachmittagsbereich weiter. Alle sind im Fluss, die Kollegen und Kolleginnen lächeln. Eine Woche lang verwandelt sich eine heterogene Schülerschaft in eine große Clique, die Konflikte in den Pausen nehmen rapide ab. Von Tag zu Tag werden die Kinder besser. Die Störenfriede und Pausenclowns reihen sich nach und nach ein, und was am Montag noch undenkbar schien, wird im Laufe der Woche Gewissheit: Die Jungs und Mädels werden es packen. „Ich hab so Schiss vor dem Auftritt“, sagt mir ein Drittklässler am Donnerstag auf dem Schulhof. „Wir ziehen das jetzt durch“, antworte ich. Und dann kommt der Tag.

 

Und dann hat es rumms gemacht…

Es ist Freitag und die erste Vorstellung ist vorbei. Der Konrektor und ich liegen quer über den Stühlen, die 50-Stunden-Woche fordert langsam ihren Tribut. Eine Journalistin sitzt vor uns. Bis gerade habe ich sie noch durch die Klassen geführt, ihr die Kinder in ihren Kostümen gezeigt und ihre Fragen beantwortet, jetzt sitzen wir zusammen mit Arnd Dalbeck dort und essen Pizza. „Ist es hier anders als in anderen Schulen?“, fragt die Journalistin den Künstler. „Weil das hier eben ein Problemviertel ist?“. Arnd Dalbeck lacht: „Nein, es sind Menschen. Manche kommen schneller rein, manche brauchen länger. Was soll denn hier anders sein als an anderen Orten? Das sind Kinder.“
Die Journalistin dreht sich zum Konrektor um. „Wie haben sie die Woche erlebt?“. „Wie ich die Woche erlebt habe?“, fragt er. „Was soll ich ihnen sagen? Es ist hier bei der ersten Vorstellung wie im Stadion gewesen, Gänsehaut halt. Ich hab die Kinder selten so glücklich wie in dieser Woche erlebt.“

Und irgendwann gehen die Türen zum zweiten Mal auf. Wieder strömen über 200 Eltern in die Halle, wieder ziehen die Gazellen, Elefanten, Giraffen und Affen ein. „Es ist kein Problem, wenn sie Fotos machen“, sagt Arnd Dalbeck ganz zu Beginn. „Aber tun sie ihren Kindern den Gefallen und hören sie auf, mit ihren Smartphones durchgehend zu filmen. Ihre Kinder wollen von ihnen gesehen werden. Und diesen Moment mit ihnen teilen.“
Es ist das zweite Mal an diesem Tag, dass sich über 130 Hände langsam nach oben erheben. Es ist das zweite Mal, dass über 400 Augen auf sie blicken, auf die Türken, Rumänen, Bulgaren, auf die Syrer, Afghanis, Iraker. Es ist das zweite Mal, dass die Musik einsetzt. Und es ist wie beim ersten Mal, als die Hände lange in der Luft hängen und noch länger dort bleiben. Und dann macht es rumms. Und alles hat sich gelohnt.

Die Schulsozialarbeit im Wellenbrecher Büro Rhein-Ruhr wird vertreten von Birgit Brinkmann, Bettina Grosser, Jan Bilstein und Michael Kazmierski. An drei Grundschulen in Duisburg sind sie Ansprechpartner für Lehrer, Eltern und Kinder. Sie führen Sozialkompetenztrainings durch, vermitteln bei Bedarf Ratsuchende an andere Institutionen und stehen im ständigen Austausch mit den Jugendämtern in ihren Bezirken. Die drei Eckpfeiler ihrer Arbeit sind Prävention, Intervention und Netzwerkarbeit.

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